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Pussy Riot zu 2 Jahren Lagerhaft verurteilt

17. August 2012

Ein Moskauer Gericht hat die drei Mitglieder der russischen Punkband Pussy Riot nach ihrem Protest gegen Kremlchef Wladimir Putin in einer Kirche wegen Rowdytums aus religiösem Hass schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt.

3 Mitglieder der Punkband Pussy Riot müssen nach ihrem Protest gegen Kremlchef Wladimir Putin in einer Kirche für je zwei Jahre in Haft. Richterin Marina Syrowa begründete das Strafmaß am Freitag mit Rowdytum aus religiösem Hass. Die Untersuchungshaft von knapp sechs Monaten werde angerechnet.

Die Staatsanwaltschaft hatte für die Künstlerinnen Nadeschda Tolokonnikowa (22), Maria Aljochina (24) und Jekaterina Samuzewitsch (30) je drei Jahre Gefängnis beantragt, die Verteidigung Freispruch. Die Anwälte von Pussy Riot wollen das Urteil anfechten.

(Nach Informationen der FAZ)

22 Kommentare leave one →
  1. 18. August 2012 11:42

    In der ukrainischen Hauptstadt Kiew fällte eine Aktivistin der feministischen Gruppe Femen mit der Kettensäge ein Holzkreuz im Zentrum der Stadt. Die Miliz leitete ein Verfahren wegen Landfriedensbruches ein. (Foto: AFP)

  2. 18. August 2012 11:47

    Bulgarische Anhänger der Gruppe dekorierten das Denkmal zu Ehren der Sowjetarmee in Sofia mit bunten Sturmhauben. Zudem demonstrierten Aktivisten vor der russischen Botschaft in der bulgarischen Hauptstadt. (Foto: AFP)

  3. libertärer Sozialist permalink
    18. August 2012 12:00

    Hier ein guter Artikel des linken slowenischen Philosophen Slavoj Žižek zum Thema:

    „The True Blasphemy“: Slavoj Žižek on Pussy Riot

    “The True Blasphemy”: Slavoj Žižek on Pussy Riot

    The True Blasphemy

    Pussy Riot members accused of blasphemy and hatred of religion? The answer is easy: the true blasphemy is the state accusation itself, formulating as a crime of religious hatred something which was clearly a political act of protest against the ruling clique. Recall Brecht’s old quip from his Beggars’ Opera: “What is the robbing of a bank compared to the founding of a new bank?” In 2008, Wall Street gave us the new version: what is the stealing of a couple of thousand of dollars, for which one goes to prison, compared to financial speculations that deprive tens of millions of their homes and savings, and are then rewarded by state help of sublime grandeur? Now, we got another version from Russia, from the power of the state: What is a modest Pussy Riot obscene provocation in a church compared to the accusation against Pussy Riot, this gigantic obscene provocation of the state apparatus which mocks any notion of decent law and order?

    Was the act of Pussy Riot cynical? There are two kinds of cynicism: the bitter cynicism of the oppressed which unmasks the hypocrisy of those in power, and the cynicism of the oppressors themselves who openly violate their own proclaimed principles. The cynicism of Pussy Riot is of the first kind, while the cynicism of those in power — why not call their authoritarian brutality a Prick Riot — is of the much more ominous second kind.

    Back in 1905, Leon Trotsky characterized tsarist Russia as “a vicious combination of the Asian knout and the European stock market.” Does this designation not hold more and more also for the Russia of today? Does it not announce the rise of the new phase of capitalism, capitalism with Asian values (which, of course, has nothing to do with Asia and everything to do with the anti-democratic tendencies in today’s global capitalism). If we understand cynicism as ruthless pragmatism of power which secretly laughs at its own principles, then Pussy Riot are anti-cynicism embodied. Their message is: IDEAS MATTER. They are conceptual artists in the noblest sense of the word: artists who embody an Idea. This is why they wear balaclavas: masks of de-individualization, of liberating anonymity. The message of their balaclavas is that it doesn’t matter which of them got arrested — they’re not individuals, they’re an Idea. And this is why they are such a threat: it is easy to imprison individuals, but try to imprison an Idea!

    The panic of those in power — displayed by their ridiculously excessive brutal reaction — is thus fully justified. The more brutally they act, the more important symbol Pussy Riot will become. Already now the result of the oppressive measures is that Pussy Riot are a household name literally all around the world.

    It is the sacred duty of all of us to prevent that the courageous individuals who compose Pussy Riot will not pay in their flesh the price for their becoming a global symbol.

    Slavoj Žižek

  4. Erik Alfredsson permalink
    18. August 2012 21:10

    Mein Arbeitskollege Vladimir versteht die Aufregung nicht:
    „So etwas geschieht in Putins Reich jeden Tag.“

    Der Kulturredaktör von ARBETAREN dazu:
    „Es sitzt eine gewaltig größere Menge Menschen im Gefängnis, weil sie gesagt, gesungen geschrieben oder sogar gedacht haben, was gewissen Potentaten nicht behagt.“
    Und: „Schenke all den anderen einen Gedanken, oder noch besser, versuche etwas für sie zu tun.“
    (Arbetaren #32/2012)

  5. Nach dem Prozess ist vor dem Prozess permalink
    18. August 2012 22:05

    Reaktionen auf das Urteil gegen „Pussy Riot“
    Nach dem Prozess ist vor dem Prozess

    Hat sich die Staatsmacht bei ihrem Vorgehen gegen die Punkband „“Pussy Riot“ verschätzt? Nicht nur bekannte Oppositionelle kritisieren in Russland das Urteil gegen die drei Musikerinnen. Allein die Partei von Präsident Putin bejubelt den Schuldspruch. Und schon droht weiteren Oppositionellen der Prozess.

    http://www.tagesschau.de/ausland/pussyriot138.html

  6. Pussy Riot сингл для приговора - "Путин зажигает костры" permalink
    18. August 2012 22:55

    Pussy Riot сингл для приговора – „Путин зажигает костры“

    СЛОВА СИНГЛА ДЛЯ ПРИГОВОРА ГРУППЫ PUSSY RIOT – „ПУТИН ЗАЖИГАЕТ КОСТРЫ“:

    Государство в тюрьме сильнее времени
    Чем больше арестов – тем больше счастья
    А каждый арест – с любовью к сексисту
    Качнувшему щеки, как грудь и живот

    Но нас нельзя закупорить в ящик
    Свергай чекистов лучше и чаще

    Путин зажигает костры революций
    Ему скучно и страшно с людьми в тишине
    Что ни казнь у него – то гнилая рябина,
    Что ни срок в много лет – то предмет для поллюций

    Припев.
    Страна идет, страна идет на улицы с дерзостью
    Страна идет, страна идет прощаться с режимом,
    Страна идет, страна идет феминистским клином
    А Путин идет, Путин идет, прощаться скотом

    Арестуй по 6 мая весь город
    7 лет нам мало, дай 18
    Запрети кричать, клеветать и гулять,
    Возьми себе в жены батьку Лукашенка

    Припев 2 раза.

  7. libertärer Sozialist permalink
    19. August 2012 10:19

    Hier eine Petition zur Freilassung der mutigen Aktivistinnen und Künstlerinnen dieser großartigen Punk-Band:

    http://www.change.org/de/Petitionen/free-pussy-riot

  8. Folkert permalink
    19. August 2012 11:32

    Stalina Putin und sein gefährlicher Freund Patriarch Kyrill II

    Der „Tabak-Patriarch“ und die „Partei der Gauner und Diebe“

    Es ist das Glück, manchmal auch das Unglück einer Freundschaft, dass sich die Freunde immer ähnlicher werden. Russische Blogger haben 27 Villen und Luxusapartments im Besitz des Präsidenten gezählt, von Südrussland bis St. Tropez. Auch der Patriarch besitzt nicht nur einen Maybach, sondern für einen Mönch recht viele Residenzen. Vor allem nennt er eine luxuriöse Penthousewohnung gegenüber dem Kreml sein Eigen. Sein Vermögen soll sich auf vier Milliarden Dollar belaufen. Das Geld verdiente er in den neunziger Jahren, als er im Namen der orthodoxen Kirche mit Zigaretten und Öl handelte. Die Zigaretten wurden als »humanitäre Hilfe« deklariert und waren deshalb vom Zoll befreit. Kyrill trägt deswegen auch den verächtlichen Spitznamen »Tabak-Patriarch« – Putins Partei Einiges Russland hat der Blogger Alexej Nawalny »Partei der Gauner und Diebe« getauft; der Name hat sich durchgesetzt. (Zeit, 16.8.12)

    http://www.zeit.de/2012/34/Putin-Orthodoxe-Kirche/seite-2

    Und dann:

    „Russisch-orthodoxe Kirche fordert Milde: Die regierungsnahe russisch-orthodoxe Kirche forderte nach dem Urteil „Milde“ für die drei Frauen.“ (Zeit, 18.8.12)

  9. Erik Alfredsson permalink
    19. August 2012 17:16

    „Putin entzündet den Scheiterhaufen.“

    „in der Stille hat Putin Angst“.

    Kann das vielleicht jmd. übersetzen?

  10. 19. August 2012 20:51

    da könne die Aktivist@s in Kölln mal gucken, was die hiesigen Gesetze so dagegen vorzubringen haben:

    Pussy Riot action Köln

    Pussy Riot Action in Köln , gegen jede Herrschaft, alle Knäste , Kirche.
    Für die Freiheit aller Gefangenen, Für die Freiheit der 3 Pussy Riots in Moskau.
    Heute , Sonntag 19.8.2012, 2 Tage nachdem 3 Menschen in Moskau für die gleiche Aktionsform, zu
    2 Jahren Haft verurteilt wurden,
    sind 5 Pussy Riots in den Kölner Dom gegangen um für die Abtreibung des Staates, für die Freiheit aller Gefangenen und für eine Feministische Maria zu beten.
    Dabei wurden sie von Kirchensicherheit und Priestern mit Gewalt aus der Kirche geworfen.
    Vor der Kirche gab es Rufe, Erklärungen und Repression der Polizei.

    Das „Free Pussy Riot and All Prisinors“ Transparent wurde von der Polizei als Beweisstück für den Prozess beschlagnahmt.

    Danach gab es Diskussionen und Kafee mit Leuten die Zuschauer der Aktion waren.

    Other video vimeo.com/47814337

    (§124 StGB )

  11. Abachoübersetzkymaschinskinista permalink
    19. August 2012 21:39

    DIE WÖRTER DES SINGLES FÜR DAS URTEIL DER GRUPPE(TEAMS) PUSSY RIOT – “ZÜNDET PUTIN DIE FEUER“ AN:

    Der Staat im Gefängnis ist als die Zeit stärker
    Je grösser gibt es der Verhaftungen – desto als mehreres Glück
    Und jede Verhaftung – mit der Liebe zu seksistu
    Schwingend die Wangen, wie die Brust und der Bauch

    Aber unser ist es sakuporit in den Kasten verboten
    Stürze die Tschekisten besser und öfter(oft)

    Putin zündet die Feuer der Revolutionen an
    Ihm langweilig und furchtbar mit den Menschen in der Stille
    Dass die Todesstrafe bei ihm – jenes der verfaulte Vogelbeerbaum(Vogelbeere),
    Dass die Frist(Termin) in viel Jahre – jenes der Gegenstand(Fach) für die Pollutionen

    Der Refrain.

    Das Land geht, das Land geht auf die Straßen mit der Frechheit
    Das Land geht, das Land geht, sich mit dem Regime zu verabschieden,
    Das Land geht, das Land geht Frauenkeil
    Und Putin geht, Putin geht, sich vom Vieh zu verabschieden

    Verhafte bis zum 6. Mai die ganze Stadt
    7 Jahre gib uns wenig, 18
    Verbiete, zu schreien, klewetat und zu spazieren(feiern),
    Führe sich Vater Lukaschenka als Frau heim

    Der Refrain 2 Male.

    • Erik Alfredsson permalink
      23. August 2012 22:53

      @ Übersetzymachinese

      Danke für den gutgemeinten Versuch! Aber:
      Dieses sinnentleerte Maschinen-Gestammel erinnert mich an etwas:

  12. +++ Angst vor Gefängnisstrafe +++ Zwei Mitglieder von "Pussy Riot" aus Russland geflohen +++ permalink
    15. September 2012 19:39

    Angst vor Gefängnisstrafe
    Zwei Mitglieder von „Pussy Riot“ aus Russland geflohen

    Aus Furcht vor der russischen Justiz sind zwei Mitglieder der regierungskritischen Punkband „Pussy Riot“ offenbar ins Ausland geflohen. Die Gruppe teilte über den Kurznachrichtendienst Twitter mit, zwei Aktivisten hätten Russland verlassen und wollten „ausländische Feministinnen rekrutieren, um neue Protestaktionen vorzubereiten“. Die russische Polizei hatte in der vergangenen Woche eine Fahndung nach weiteren Bandmitgliedern eingeleitet.

    Der Ehemann einer der verurteilten Musikerinnen bestätigte, dass die anderen beiden „an einem sicheren Ort außerhalb der Reichweite der russischen Polizei“ seien. Das betreffende Land habe mit Russland kein Abkommen zur Überstellung.
    Drei Jahre Lagerhaft

    Den beiden Frauen droht in Russland ebenfalls eine Gefängnisstrafe wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“. Sie sollen gemeinsam mit ihren drei verurteilten Mitstreiterinnen im Februar in der Moskauer Erlöserkathedrale ein Punkgebet gegen Putin aufgeführt haben. Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch waren vor kurzem zu je zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Zwei Tage später hatte die russische Polizei erklärt, sie fahnde nach den zwei übrigen Bandmitgliedern. Das Urteil gegen „Pussy Riot“ rief international Kritik hervor.

    Angesichts der Flucht der beiden Frauen aus Russland forderte der Grünen-Politiker Volker Beck, dass Deutschland ihnen humanitäre Aufnahme anbietet. Dies sei wichtig für ihren Schutz und ein starkes Signal an die demokratische Opposition in Russland, erklärte der menschenrechtspolitische Sprecher seiner Partei.
    Weitere Proteste, weitere Festnahmen

    Derweil ging die Polizei in Russland weiter gegen Sympathisanten der Gruppe vor. Bei einer nicht genehmigten Demonstration in Moskau wurden mindestens sechs Unterstützer der Band festgenommen. Die Teilnehmer hätten nach dem Vorbild von „Pussy Riot“ bunte Sturmhauben getragen, sagte ein Behördensprecher nach Angaben der Agentur Interfax.

    Am Samstag war der russische Oppositionelle und frühere Schachweltmeister Garri Kasparow vom Vorwurf freigesprochen worden, während des Prozesses gegen „Pussy Riot“ einen illegalen Protest organisiert zu haben. Ein Moskauer Gericht sah nicht genügend Beweise für einen Verstoß gegen das Demonstrationsrecht. Kasparow hatten in dem Verfahren eine hohe Geldstrafe oder bis zu 15 Tage Gefängnis gedroht, nachdem das Demonstrationsrecht in Russland vor kurzem deutlich verschärft worden war.

    http://www.tagesschau.de/ausland/pussyriot152.html

  13. KGB-Putin vs KGB-Gudkow +++ Kreml-Kritiker verliert Parlamentsmandat +++ Gutes Recht oder Rache? +++ Bürgerkrieg? +++ Stalinauferstehung? +++ permalink
    15. September 2012 19:46

    Kreml-Kritiker verliert Parlamentsmandat
    Gutes Recht oder Rache?

    Die russische Duma hat dem Abgeordneten Gudkow das Mandat entzogen, weil er auch als Unternehmer gearbeitet haben soll. Fest steht, dass er offen Präsident Putin kritisierte und die Proteste mitorganisierte. Beobachter sehen den Rauswurf als Zeichen vor einem für morgen geplanten „Marsch der Millionen“.

    Von Bernd Großheim, ARD-Hörfunkstudio Moskau

    Das russische Parlament hat dem Oppositionspolitiker Gennadi Gudkow sein Abgeordnetenmandat entzogen. Er hatte in letzter Zeit mehrfach in der Duma den Regierungskurs scharf kritisiert. Außerdem war er Mitorganisator der Großdemonstrationen gegen Präsident Wladimir Putin.

    Seit 2001 sitzt Gudkow in der Staats-Duma. Heute war sein vorerst letzter Tag. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, neben seiner Abgeordnetentätigkeit als Unternehmer gearbeitet zu haben. Das ist nach den Parlamentsregeln verboten. Mit den Stimmen der Kremlpartei „Geeintes Russland“ und der Liberaldemokraten verlor Gudkow nun sein Mandat.

    http://www.tagesschau.de/ausland/russland724.html

  14. Jens Kastner ~ Verrückte Destabilisierung ~ Sind queere Theorie und Praxis anarchistisch? ~ Oder ist der Anarchismus queer? ~ Ein kleiner Überblick permalink
    19. Oktober 2012 11:36

    Verrückte Destabilisierung ~ Sind queere Theorie und Praxis anarchistisch? ~ Oder ist der Anarchismus queer? ~ Ein kleiner Überblick

    „Queere Politik ist ein Versuch, Bündnisse gegen Herrschaft der Normalisierung nicht auf Identität – die ja Ergebnis dieses bekämpften Regimes ist –, sondern auf politische Solidarität zu bauen.“[1] Für die Beantwortung der Frage, ob queere und anarchistische Theorie und Praxis etwas miteinander zu tun haben oder gar zusammengehen (können), mache man sich anfänglich den Spaß, in der zitierten Formel aus einer Einleitung in die Queer Theory das Wort „queer“ zu streichen und durch „anarchistisch“ ersetzen. Stimmt die Aussage noch? Auch im Anarchismus versammeln sich Kämpfe gegen die Herrschaft der Normalisierung, sofern diese als sozialtechnische Anpassung an gesellschaftliche Normen verstanden wird. Und auch im Anarchismus gibt es Tendenzen, diese Kämpfe ohne grundlegenden Bezug auf bestimmte Identitäten zu führen: Wenn auch als Teil der ArbeiterInnenbewegung entstanden, wehrten sich AnarchistInnen wie beispielsweise Gustav Landauer schon früh gegen eine Festlegung der TrägerInnen anarchistischer Ideen und Praktiken auf das Proletariat. Landauer argumentierte, dass gerade weil es „über der Welt des Wirtschaftens auch noch eine Welt des Geistes und der Kultur gibt“, der Gedanke erlaubt sein müsse, „dass aus jeder Klasse freie und mutige Menschen hervorgehen können […].“[2] Das anarchistische Argument ist dem queeren in identitätslogischer Hinsicht sehr ähnlich: Wenn die ArbeiterInnen doch erst durch die Gewalt des Kapitals zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen ihre Identität als ArbeiterInnen entwickelten, warum sollten die revolutionären Kämpfe auf dieser Identität, „die ja Ergebnis dieses bekämpften Regimes ist“, gründen? Die – vor allem marxistischen – Gegenargumente lagen auf der Hand: Die gemeinsame Erfahrung der Ausbeutung in der Produktion, so die Annahme, führe auch zu gemeinsamer Kampfkraft gegen die Verhältnisse, die diese Produktion ermöglichten.

    Drag Demos
    Ursachen und Mechanismen der Unterdrückung, die Identität der dagegen Kämpfenden und die Effektivität ihres Kampfes, das sind allerdings drei verschiedene Ebenen, die keinesfalls in direkter, kausaler Abhängigkeit zueinander stehen. So jedenfalls war es immer wieder – auch ohne deshalb dem Klassenkampf eine Absage zu erteilen – von Seiten der AnarchistInnen zu vernehmen. Und so argumentiert auch die Queer Theory. Nur dass ihre Ursprünge nicht in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, sondern im Feminismus und den Kämpfen der Lesben und Schwulen liegen. Der Begriff selbst zeigt schon eine aus der Geschichte kultureller Avantgarden und sozialer Bewegungen bekannte Strategie an: nämlich die der Umdeutung vormals pejorativ, also in beleidigender Absicht gebrauchter Begriffe. Queer bedeutet verwirrt, verrückt, pervers aber auch einfach uneindeutig. Die Frage, wann und unter welchen Bedingungen solche Umwertungen gelingen und wann nicht, gehört damit zum Gegenstand der Forschung und queerer Theoriebildung. Es wird aber auch ausprobiert: Dazu wurde das vormals auf Clubs und ähnliche subkulturelle Räume beschränkte Verwirrungsrepertoire auf andere Locations und Gelegenheiten ausgedehnt. Was zunächst eine schwul-lesbische, dann feministische Politik war, hat sich heute als Kampf gegen eindeutige Grenzziehungen über die Geschlechterfragen von lesbian-gay-bi-trans-intersexuellen (LGBTI) Identitäten hinaus ausgeweitet: Pink and Silver-Blocks auf globalisierungskritischen Demonstrationen sind nicht ausschließlich LGBTI-motiviert, aber dennoch wohl ohne Drag Queens und Kings nicht zu denken.

    Praktische Ausschlüsse
    Die erste Kritik gegenüber Eindeutigkeiten richtete sich gegen das Subjekt des Feminismus selbst. Es traten also einerseits innerhalb der zweiten Frauenbewegungen schon früh Brüche auf, die die Einheitlichkeit der feministischen Identität „Frau“ in Frage stellten. Denn Homogenität grenzt aus: Die Lebenswelten und die alltäglichen und sexuellen Praktiken von Lesben und die Unterdrückungsformen, denen sie ausgesetzt waren, wurden in den Kämpfen der Frauenbewegung für das Recht auf Abtreibung, gegen unbezahlte Hausfrauenarbeit, gegen Pornografie etc. weitgehend ausgeblendet. Auch die Realitäten schwarzer, armer, migrantischer Frauen kamen kaum vor. Das Subjekt des Feminismus, „die Frau“, waren in Wirklichkeit die weißen Mittelschichtsfrauen. Damit wurde die identitäre Kategorie „Frau“, die eigentlich gegen Marginalisierung aller Frauen ins Feld geführt worden war, als selbst marginalisierend ausgemacht. Die zweite Frauenbewegung ab Ende der 1960er Jahre kritisierte Weiblichkeit zwar als das ausgeschlossene „Andere“. Damit war zugleich aber der Versuch verbunden, die unterdrückten und verschütteten Geschichten dieser Andersheit zu (re-)aktivieren und sie damit als relativ einheitliche, an „der Frau“ orientierte eigenständige Geschichte zu etablieren. In weiten Teilen der Frauenbewegung blieb die Geschlechterkonzeption gerade durch diese Form der Identitätspolitik inklusive (Wieder-)Entdeckung des weiblichen Körpers (mit seiner Gebärfähigkeit als vermeintlich alle Frauen verbindendes Element) strikt dualistisch, d.h. in männlich und weiblich zweigeteilt. Das ließ wenig Platz für abweichende oder neue Formen der Verknüpfung von Geschlecht und Sexualität. Gegen solche Dualismen wendet sich aber gerade der queere, so genannte Third Wave-Feminismus. Frauenrechtsbewegung, zweite Frauenbewegung, dritte Welle: Queere Politiken sind also in den konflikthaften Auseinandersetzungen mit den emanzipatorischen, identitätspolitisch-feministischen Bewegungen entstanden und zugleich als „kritische Instanz gegen sie.“[3]

    Theoretische Turns
    Andererseits und gleichzeitig wurde in den theoretischen Debatten innerhalb des feministischen Projekts die „Wende vom essentialistischen zum konstruktivistischen Konzept von Geschlecht“[4] vollzogen. Dieser turn wurde zu einer der wichtigsten Grundlagen der Queer Theory. Nicht länger als wesenhafte, an einen biologisch bestimmbaren Körper gebundene Form der Klassifizierung, wurde Geschlecht seit den späten 1980er Jahren als eine Form von diskursivem Effekt aufgefasst. Für diese Wende steht kaum eine Position dermaßen ein wie die der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler.[5] Nach Butler ist Geschlecht nicht nur ein diskursives Konstrukt, sondern eine gewissermaßen gelebte Kategorie: Geschlecht muss tagtäglich aufgeführt, performt werden. Wenn Geschlecht in erster Linie aus der wiederholten Inszenierung performativer Akte besteht, dann, so die praxis- und bewegungsrelevante Idee, lassen sich diese Inszenierungen unter Umständen auch anders als zweigeteilt in männlich vs. weiblich aufführen. „Wenn also die regulierenden Fiktionen von Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) selbst vielfältig angefochtene Schauplätze der Bedeutung sind, bietet gerade die Mannigfaltigkeit ihrer Konstruktion die Möglichkeit, mit ihrer Pose scheinbarer Eindeutigkeit zu brechen.“[6] Nichts am Geschlechtersystem sei als gegeben anzunehmen, schreibt Butler, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht sei eine durch und durch innovative Angelegenheit – „wenn auch ganz klar ist, dass Zuwiderhandlungen gegen den vorgegebenen Text durch abweichende Darstellungen oder nicht autorisierte Improvisationen strikt bestraft werden.“[7] Der Nachsatz betont den Zwangscharakter jeder Performance. Es lässt sich also nicht nur nicht nicht performen, sondern jede Performance unterliegt auch noch bestimmten Regeln (deren Verletzung sanktioniert wird). Gesellschaftsveränderung ist also auch kein Karneval. Diese Regeln in Frage zu stellen und praktisch zu unterlaufen kann als das zentrale Anliegen queerer Theorie und Praxis bezeichnet werden. Queere Programme formierten sich fortan explizit „Wider die Eindeutigkeit“[8] und als „Politik der Destabilisierung“[9].

    Anti- vs. Post-Identität
    Eine solche Politik lässt sich ohne weiteres auch ganz allgemein als libertär bezeichnen, wenn man unter „libertär“ eine fundamental-kritische Haltung stabilen Formen gegenüber in Politik (Partei und Staatsapparate aller Art), Produktion (Fabrik, Arbeitszeitregime) und sozialem Leben (Ehe, Kleinfamilie etc.) versteht. Allerdings ist queere Politik auch mehr als die Rückkehr zur anti-identitären Position der Mujeres Libres. In einem Text von 1977 formulierte die anarchistische Frauen-Organisation jene Position neu, die sie im Wesentlichen schon in den 1930er Jahren vertreten hatte: Die Befreiung der Frauen impliziere nicht den Kampf gegen Männer, sondern es handele sich um einen gemeinsamen „Kampf gegen die politischen und geistigen Strukturen.“[10] Diese anti-identitäre Position der Mujeres Libres ordnet das Projekt der Befreiung der Frauen aber eher dem Klassenkampf unter, anstatt es als eigenständiges Projekt zu formulieren. Im Zweifel für die gemeinsame Sache. Diese Art anti-identitärer Politik betreibt die minoritäre Organisierung (unter Frauen) als Strategie, als Mittel zum Zweck (Befreiung aller). Der Streit über solche strategischen Organisierungen, der auch von anarchistischen Genossen in den 1930er Jahren vom Zaun gebrochen worden war, die die separate Organisierung von Frauen für unnötig hielten, war also immer auch ein Kampf um die Angemessenheit der Mittel: Tausend kleine Plateausohlen oder eine entschlossene Faust? Die queere Haltung gegenüber Identitätspolitik ist demgegenüber eher post-identitär (als anti-identitär), d.h. sie erkennt die temporäre Notwendigkeit und die Errungenschaften der identitären Politik an und entwickelt sich aus ihrer Kritik heraus weiter. Die Identitätspolitiken werden eher im historischen Rückblick denn als strategische Ressource für die Kämpfe der Gegenwart geschätzt. Die post-identitäre Haltung von queer ist heute zugleich trans-identitär, d.h. sie zielt auf die Überwindung von Identität.

    Insofern ließe sich der Unterschied zwischen anti-identitärer und post-identitärer Haltung auch als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal auch zwischen anarchistischer und queerer Theorie herausstellen. Entstand die queere Praxis und Theorie aus den bewegungsinternen Erfahrungen von Schwulen und Lesben, stammt die Entlarvung stabiler Geschlechter und Sexualitäten als soziale Konstruktionen aus „einer besonderen lesbischen und schwulen Verarbeitung poststrukturalistischer Auffassungen, die Identität als Anordnung vielfältiger und unbeständiger Positionen verstehen.“[11] Große Teile der anarchistischen Theorie der Gegenwart allerdings haben den Poststrukturalismus gar nicht rezipiert und ihre Bindung an den Humanismus der Aufklärung nie hinterfragt oder gar aufgegeben – von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise der kleinen Strömung des Postanarchismus abgesehen. Das führt zum einen dazu, dass sich im Anarchismus zwar immer bestimmte Motive ausmachen lassen, die sich ganz allgemein als antiautoritäre Haltung beschreiben ließen und deshalb grundsätzlich zu queerer Theorie und Praxis passen: gegen Hierarchien in jeder Hinsicht, gegen starre und unbewegliche Klassifizierungen, für „selbstbestimmte“ Organisierung etc. In theoretischer Hinsicht hängt das Gros des Anarchismus aber in Fragen des Verhältnisses von sozialer Ungleichheit und kulturellen Differenzen der queeren Theorie in der Regel um ein paar Jahrzehnte hinterher. Die anti-identitäre Haltung im Anarchismus ist die am humanistischen Subjekt „Mensch“ orientierte, die selten reflektiert, dass seit der Erklärung der Menschenrechte die Rechte von Frauen, Indigenen, Schwarzen und anderen Marginalisierten gar nicht mitgemeint waren und sind. Wenn im queeren Kontext gegen Identität argumentiert wird, geschieht dies (inhaltlich wie historisch) nach dem Humanismus und nach den Identitätspolitiken.

    Zum anderen bedeutet dieser Unterschied zwischen Anarchismus und Queer aber nicht, dass es nicht konkrete Gemeinsamkeiten auch in der politischen Praxis gäbe. Uri Gordon erwähnt in seiner Skizze zu anarchistischen Bewegungen der Gegenwart beispielsweise die Bedeutung des Queeruption-Netzwerkes in Israel, bei deren Treffen „neue Verbindungen zu anarchistischen Queers in der ganzen Welt“[12] entstanden seien. Diese anarchistischen Queers sammeln sich auch in den Bash Back-Netzwerken in den USA (http://bashbacknews.wordpress.com/) oder den queer mutiny-Kreisen in Großbritannien. Als Teil dessen, was sich seit den 1990er Jahren als queer-anarchistische Bewegung herausgebildet, ist sicherlich auch die weltweite Ladyfest-Bewegung zu zählen. Die ist zwar nicht immer und ausschließlich explizit anarchistisch, zeigt sich in der Praxis aber sehr libertär: selbstorganisiert, antihierarchisch, antikommerziell und gegen Heternormativität ausgerichtet.

    Schlagkraft und Stereotype
    Nicht alles was queer ist, steht deshalb aber dem Anarchismus in irgendeiner seiner Formen nahe. Das Näheverhältnis definiert sich hier auch nicht unbedingt über den üblichen Gegensatz von Bewegung versus Apparat. Das heißt, es gibt einerseits durchaus transidentitäre Bewegungen, in denen Herrschaftskritik kaum vorkommt und andererseits institutionalisierte Queer Theory, die libertäre Inhalte pflegt und weiterentwickelt. Die Gräben innerhalb von Queer (Theorie & Praxis) verlaufen auch weniger zwischen praxisorientierten Bewegungsqueeren und theorievernarrten Institutionenqueers. Dazu sind allein die Anflüge der Institutionalisierung von Queer Theory zu schwach gewesen. Die im deutschen Sprachraum einzige Professur für Queer Theory an der Uni Hamburg wurde 2006 schon wieder abgeschafft. Vielmehr warf die programmatische Vielfalt des Begriffs „queer“, der sich ebenso wenig scharf abgrenzen lässt wie der des Anarchismus, selbst neue Probleme auf. Sowohl queerer Aktivismus als auch queere Theorie fanden sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass der Begriff, wird er zu eng gefasst und ausschließlich auf feministisch orientierte, gegen „weibliche“ Geschlechterstereotype und Heteronormativität kämpfende Personen oder Praktiken bezogen, selbst zu einer Ausschlusskategorie wird. Mit welcher Begründung sollten dann nicht-geschlechtliche körperliche oder auch habituelle Abweichungen oder auch nicht-feministische Haltungen aus dem Begriff ausgeklammert werden? Werden solche Formen und Praktiken aber mit einbezogen, der Begriff also geöffnet, geht dies häufig zu Gunsten der politischen Schlagkraft. Es ist eben nach wie vor eine entscheidende Frage, ob dafür bestimmte Eindeutigkeiten, seien es szeneübergreifende Inhalte oder verschiedene Szenen umfassende Darstellungsformen, nicht doch gewissermaßen konstitutiv sind. Denn ohne eine minimale inhaltliche Begrenzung, so wird auch aus der queeren Community heraus bemängelt, gerät innerhalb des queer-feministischen Projekts „das Eingreifen in politische Praxen in den Hintergrund.“[13] Eine solche inhaltliche Bestimmung hat zuletzt auch Judith Butler selbst vorgenommen: Mit einer auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Brandenburger Tor lehnte die Queer-Theoretikerin beim Christopher Street Day (CSD) im Sommer 2010 vor Tausenden Feiernden den Zivilcourage-Preis des Berliner CSD e.V. ab. Der Kampf gegen Homophobie, begründete Butler ihre Entscheidung, sei nicht ohne antirassistische Ausrichtung zu leisten. Damit reagierte sie auch auf die Ausgrenzung von migrantischen und Queers of Colour durch die schwul-lesbische Community.[14] Queer ist mit Statements wie diesen längst aus dem transsexuellen, geschlechterpolitischen Kontext gelöst und zu einer Position im Kampf um soziale Gerechtigkeit gemacht worden. Gleichzeitig ist das Wort queer mit der zunehmenden Akzeptanz von Homosexualität im Mainstream zumindest popkultureller Provenienz angekommen. Eine „Queer Party“, wie sie im vergangenen Sommer in der Wiener Stadthalle gefeiert wurde, mit Marianne Rosenberg und Nina Hagen als Headliner, ist schließlich wohl nur noch unter verrenkender Ausdehnung aller Kategorien als Teil der „Bündnisse gegen Herrschaft der Normalisierung“ und für „politische Solidarität“ zu begreifen.

    Jens Kastner

    http://www.jenspetzkastner.de/anarchismus_queer.html

  15. Yozh Free Pussy Riot Oslo World Music Festival permalink
    31. Oktober 2012 21:43

    Yozh Free Pussy Riot Oslo World Music Festival

    http://eng-pussy-riot.livejournal.com

    Seminar – „Even though they put us in jail, we have not lost“

    About art as a political statement and the freedom of speech in Russia.
    What is happening in Russia? Is the country in the process of obtaining a new, authoritarian state ideology, with the church taking the place of the party? The Pussy Riot affair is only one among many attacks on the freedom of speech and artistic freedom in the country.
    Oslo World Music Festival is the initiator and arranger of this seminar, in cooperation with the Nobel Peace Center, Amnesty International and Norwegian P.E.N.

    Yozh — member of Pussy Riot, artist, film director and feminist. Involved in projects connected with problems in education, health protection, prison system, gender rights, women’s rights, immigrants‘ right. Has participated in several Pussy Riot stunts.

    Vladimir Putin and Russia
    Yozh (Pussy Riot), Ksenia Sobchak, Ilya Yashin, Alexander Cheparukhin, Artemy Troitsky, John Peder Egenæs.

    Oslo World Music Festival. Free Pussy Riot.

    Full version – http://www.vgtv.no/#!id=57588

    http://www.youtube.com/user/PussyRiotEng

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    Maria Alyokhina colony IK 28 Berezniki interview before hunger Free Pussy Riot Maria Alyokhina

  18. 30. August 2015 10:21

    Das ist Kunstvandalismus

    Russlands orthodoxe Kirche hat derzeit Oberwasser. Jetzt bekämpft sie sogar moderne Kunst. Museumsdirektoren schlagen Alarm. Doch der Kreml schweigt.

    25.08.2015, von Kerstin Holm
    Celebration reception of 1,000th anniversary of the repose of the
    © dpa
    Die Staatsmacht und der orthodoxe Klerus verstehen sich gut – auf Kosten der Kunst.

    Man kann die christliche Kultur auf unterschiedliche Weise zugrunde richten. Die Russische Orthodoxe Kirche will in Gestalt ihrer obersten Hierarchen von Nächstenliebe, Freiheit und geistiger Suche nichts mehr wissen, sondern setzt auf Subordination, Einschüchterung und aggressive Staatshörigkeit. Der jüngste Überfall selbsternannter orthodoxer Sittenwächter – des Schlägertrupps „Gottes Wille“ unter dem Aktivisten Dmitri Zorionow – auf eine Skulpturenausstellung in der Moskauer Manege zeigt, dass sich um das Kulturleben in Russland ein Belagerungsring zusammenzieht. Der Appell von dreizehn Direktoren staatlicher Museen, darunter des Puschkin-Museums, der Tretjakow-Galerie, der Jüdischen Museums und des Kulturzentrums „Garage“, diesen Kunstvandalismus zu bestrafen, verhallte folgenlos. Derzeit prüfen Experten vielmehr, ob die Ausstellungsstücke gegen das auf Betreiben der Kirche 2013 verabschiedete Gesetz zum Schutz der Gefühle Gläubiger verstoßen.

    Kerstin Holm Autorin: Kerstin Holm, Redakteurin im Feuilleton. Folgen:

    Der reaktionäre Klerus hat Oberwasser. Der im Patriarchat für die Beziehungen zur Gesellschaft zuständige Oberpriester Wsewolod Tschaplin besuchte die Restschau in der Manege und verteilte Zensuren. Bei den Werken des Untergrundklassikers Vadim Sidur, von denen die Randalierer vier beschädigten, seien oft die Genitalien deutlicher herausgearbeitet als an einem öffentlichen Ort zulässig, befindet der Gottesmann, dem auch Sidurs pazifistisches Pathos auf Darstellungen von Kriegsversehrten missfällt. Außerdem tadelt Tschaplin eine Arbeit von Anatoli Osmolowski, die abgeschlagene Köpfe kommunistischer Herrscher darstellt, weil das patriotische Gefühle beleidigen könnte.
    Das Schweigen des Kremls

    Der Direktor der Petersburger Eremitage, Michail Piotrowski, wandte sich mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, worin er den jüngsten Überfall marginaler Kräfte auf eine Kultureinrichtung auch als Provokation gegen die orthodoxe Kirche bezeichnete. Es solle der Eindruck entstehen, das russische Christentum sei primitiv und aggressiv. Tatsächlich seien Museen und Kirchenleute bemüht, harmonisch zusammenzuarbeiten, heißt es in dem Dokument, das Piotrowski im Namen des russischen Museumsverbandes verfasste, dessen Präsident er ist. In Wahrheit seien die tumben Randalierer Gotteslästerer und Beleidiger des Glaubens.

    Piotrowski schlägt auch deshalb Alarm, weil von November an infolge staatlicher Sparmaßnahmen Russlands Museen ihre polizeiliche Bewachung verlieren werden. Die Eremitage, Russlands kostbarste Kunstsammlung, soll ihre Polizeiwachen noch bis zum Jahresende behalten. Doch schon jetzt sollten die Museen Übungen zum Schutz ihrer Bestände mit eigenen Mitteln abhalten, drängt Piotrowski. Außerdem werde man mit Juristen Gesetzesinitiativen zum Schutz von Kulturinstitutionen gegen Übergriffe erarbeiten. „Unsere Gesellschaft ist krank“, schließt er sein Schreiben.
    Mit der Faust gegen Gotteslästerung

    Das Schweigen des Kremls spricht Bände. Wenn Russland in Schwierigkeiten gerate, schlage es besonders brutal das eigene Volk, sagt der Schriftsteller Dmitri Bykow. Infolge von Sanktionen, Ölpreis- und Rubelkursverfall sinkt die Kaufkraft, parallel torpediert Ministerpräsident Medwedjew mit seinem Vorschlag, Privatleuten die Viehhaltung zu verbieten, die Subsistenzwirtschaft. Erzpriester Tschaplin frohlockt. Die wichtigsten Probleme von Russlands Staat und Gesellschaft würden in allernächster Zeit gelöst, und zwar nicht in Ministerialkabinetten, sondern auf der Straße, prophezeit er und appelliert an seine Landsleute, gegen alle Verstöße gegen orthodoxe Lebensregeln zu protestieren. Ohne Orthodoxie gebe es keinen gesellschaftlichen Konsens, so Tschaplin, jeder bisherige vermeintliche Konsens sei null und nichtig.

    Dem Kreml komme das sehr zupass, glaubt die Kulturwissenschaftlerin Jelena Wolkowa. Der geistliche Mentor des Kunstzertrümmerers Dmitri Zorionow, Erzpriester Dmitri Smirnow, der von Amts wegen Russlands Armee, Polizei und Strafgefangene betreut, habe in einer Videopredigt erklärt, früher habe der KGB eingesperrt, wer eingesperrt gehörte, heute müssten das eben andere tun. Smirnow, der findet, Frauen, die abgetrieben haben, sollte man töten, rechtfertigt seine Vorliebe für fromme Gewalt mit dem Hinweis auf Johannes Chrysostomos, der empfahl, gegen Gotteslästerung zur Not auch mit der Faust vorzugehen.

    Das Moskauer Patriarchat, das in seiner jetzigen Struktur von Stalin 1943 erschaffen wurde, habe mit der vorrevolutionären Konzilskirche nichts gemein, sagt Wolkowa, es sei ein Simulakrum, ein totalitärer Wolf im christlichen Schafspelz. Putin brauche den Patriarchen, der ihm eine göttliche Sendung zuspricht. Und während die Sowjetideologie, die sich an die Proletarier aller Länder wandte, „nur“ global war, hat die politische Orthodoxie, die sich auf Gottes Willen beruft, einen kosmischen Zugriff.

    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/russland-orthodoxe-kirche-bekaempft-moderne-kunst-13766728.html

  19. Pawlenski - Der Mensch und die Macht - Ab 16. März im Kino permalink
    17. März 2017 23:54

    Pawlenski – Der Mensch und die Macht – Ab 16. März im Kino

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